Wofür der Mensch Kunst braucht

Ein Gespräch mit dem Bildhauer Rudi Wach

Was bedeutet „Zeit“?

Der Begriff „Zeit“ wird in der modernen Kunst oft zur Orientierung gebraucht. Ich neige dazu, den Zeitbegriff zu annullieren, denn ob die „Venus von Willendorf“ oder mein „Rosendorf“ vor zwanzig oder vor zweitausend Jahren entstanden sind, ist letztlich belanglos. Wenn man in die Tiefe der Seele steigt, braucht man die Zeit nicht. Dort gibt es keine Zeit. Die Menschen wollen das nicht wahrhaben. Die Zeit gehört dem Körper. Dadurch sind die Menschen so versessen auf Besitz. Ich suche den inneren Menschen, möchte ihn finden, widme dieser Suche mein Dasein als Künstler. Nur mit dem inneren Menschen kommen wir weiter. Wenn wir nur den Körper verherrlichen, werden wir zu Maschinen, zu Sklaven aus eigener Wahl. Der Körper hat heutzutage eine ungeheure Rolle. Dagegen ist auch nichts zu sagen. Auch bei den alten Griechen hatte er große Bedeutung, aber heute will er die einzige Rolle spielen und übernimmt die Totalität der menschlichen Existenz. Das ist traurig und der Evolution hinderlich. Wir gehen rückwärts, wenn nur der Körper triumphiert. Nichts Grauenhafteres gibt es als die Verrohung, wenn die Seele sich zurückzieht. Es gibt Menschen, in denen die Seele strahlt, und solche, in denen die Hoheit des Körpers dominiert. Das ist der Dämon, das Furchtbare. Jeder Mensch hat den Funken. Er muss zum Leuchten gebracht werden. Das größte Kulturprodukt, das der Mensch hat, ist das Wissen um die Seele.

Kann man für die Seele arbeiten?

Ja das kann man. Man muss nach innen hören. So fängt es an. Jeder Tag soll der Arbeit an der Seele gelten. Jeden Tag sollte man versuchen, auf die innere Stimme zu hören. Da passieren ungeheure Dinge. Man soll die inneren Bilder sprechen lassen. Frag immer deine innere Stimme! Zuerst glaubt man, es gibt viele innere Stimmen, es gibt aber dann doch nur eine – die eine innere Stimme. Die anderen sind nur die Flüsterer. So steht es schon in den heiligen Texten. Die innere Stimme hat ein ganz leises Klingen. Vor allem beim Aufwachen am Morgen versuche ich mich selbst zu hören. Da kommen Dinge, über die ich sehr erstaunt bin. Es gibt eine Stimme, die dich führt. Die Seele muss man nähren, wie den Körper, Musik hören, ein gutes Buch lesen, ein Gedicht, das die Vibration ausstrahlt, die sie nährt. Das ist die Speise der Seele. Die schönste Freude ist die Freude der Seele. Sie zu suchen empfinde ich als meine Lebensaufgabe. Ich bin für jeden Tag dankbar. Ich möchte diese innere Freude erfahren, deswegen möchte ich noch leben. Die Freude an der Begegnung mit Menschen, die dieses innere Licht haben. Ich mag einfache Menschen. Bei ihnen finde ich Größe. Berühmt zu sein bedeutet gar nichts. Ich will Stufen tiefer steigen in meiner inneren Welt, mit meinen Werken von dort berichten. Weil es mit so viel bedeutet, nehme ich an, dass es auch anderen Menschen wichtig ist. Es ist eine besondere Art der Kommunikation. Erfolg im herkömmlichen Sinn kann viel zerstören. Berühmt sein zu wollen ist nur eine Ersatzhandlung, denn darum geht es gar nicht. Natürlich braucht man etwas Geld, aber eigentlich geht es um etwas ganz anderes. Es geht darum, dass das Sein reif wird. Das Wesentliche ist die Entwicklung des Bewusstseins, sagen wir der menschlichen Seele. Man hat ja immer Angst dieses Wort zu gebrauchen, aber ich verwende es. Das Gelernte, das was andere Menschen für Dich vorausgedacht haben, ist immer da. Wenn man von frühester Kindheit in einem geistigen Umfeld aufgewachsen ist, das Bildung und Wissen über den Werdegang der Menschheit vermittelt hat, ist es umso leichter, noch einen Schritt dazu zu machen. Das nenne ich die Evolution des Menschen. Wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, betrachte ich es als gigantische Leistung eines Menschen, die Entwicklung weiter voran zu führen. Es geht darum, den Menschen ins Zentrum seines Seins zu bringen. Die Vorarbeit der anderen ist wichtig. Daher ist Bildung ein großes Geschenk, das uns die Gesellschaft vermittelt. Ich schäme mich nicht, vom göttlichen Funken im Menschen zu sprechen. Deshalb gefällt mir die Anrede „Grüß Gott“ so gut. Dabei wird der Funke nämlich angesprochen. Die Orientalen sprechen in diesem Zusammenhang von einer Initiation. Sie haben darin längere Erfahrung als wir Europäer. In Indien, China und Japan gibt es jahrhundertelange Erfahrung mit der Arbeit an dem Lichtfunken, der im Menschen ist. Man muss ihn befreien, ihm die Chance geben, dass er frei wird. Die Orientalen machen das ganz bewusst, oft mittels eines persönlichen Lehrers, der genau auf das Individuum, seinen Schüler oder seine Schülerin eingeht, und ihr hilft. Der Lehrer sagt: „Du musst dir diese Blume genau ansehen. Betrachte dieses Bächlein, wie es fließt, so fließt auch du in deinem Dasein.“ Der Lehrer führt seinen Schützling langsam, Schritt für Schritt, zum eigenen Selbst. Er öffnet ihm seine Möglichkeiten. Einmal geöffnet, kommt die eigene Neugierde dazu und der Schüler wird immer mehr sehen und erfahren wollen. Sie oder er wird nicht lesen wollen, was die Zeitungen berichten, nein, sondern sich darauf konzentrieren, was Erkenntnis über unser Dasein auf der Erde vermittelt.

Wie entsteht Kunst?

Die Kunst zeigt uns die Seele und das Menschsein. Ich erkenne Kunst daran, dass sie mich mit Freude erfüllt. Wenn ich in Gegenwart eines Kunstwerks bin, komme ich in einen euphorischen Zustand. Es ist ein Glücksgefühl. Kunst ist das, was die Natur nicht hat. Allerdings hat uns die Natur die Möglichkeit gegeben, Kunst zu schaffen. Mit der Kunst erweitern wir unser Selbst und schließen gleichsam an die Schöpfung an. Die Kunst gibt uns die Möglichkeit, uns selbst zu erkennen und durch den Akt der Kreativität in Sphären vorzudringen, die uns als Menschen sonst verschlossen bleiben. Sie veredelt und erhöht uns. Die Natur hat alles für uns bereitet: Nahrung, die Schönheit der Landschaften, das Meer, Wasser, Luft, Bäume, Blumen, alles – nur die Kunst nicht. Kunst ist das Göttliche in uns. Kunst ist etwas sehr Eigenartiges. Sie ist mehr als man sich vorstellt. Oft wird sie missbraucht und geschändet. Es ist fruchtbar, was mit der Kunst alles passiert. Das möchte ich in aller Deutlichkeit unterstreichen. In Wirklichkeit geht es um die Empfindung, nicht um den Kopf. Der Kopf will nachher nur korrigieren. Kunst ist die totale Existenz unseres Seins. Daran ist die kleine Zehe genauso beteiligt wie das übriggebliebene Barthaar. Ich bin zutiefst überzeugt, dass Kunst nur in Ekstase passiert. Die Ekstase ist das Annähern an unsere göttliche Herkunft. Die Freude darüber erscheint nur am Ende, wenn der Kopf glaubt „jetzt ist etwas geschehen“. Ich versuche Kunst ein wenig zu definieren, es wird seit Jahrhunderten versucht, aber in Wahrheit ist es nicht möglich, darüber zu kommunizieren. Man kann einen sich in Ekstase befindenden Menschen nicht fragen: wie fühlst Du dich? Ich bin altmodisch, oder? Mit dem Willen kommt man jedenfalls dort nicht hin! Der Wille ist das Tor, das den Weg zur Kunst total verschließt. Man kann kein Künstler sein wollen.

Gibt es einen Weg zur Ekstase?

Ich bin jeden Tag gezwungen ins Atelier zu gehen, setze mich auf den Schemel, und beginne zu zeichnen. Das Bildhauen ist noch anstrengender, das Zeichnen ist offener, freier. Bei der Zeichnung gibt es kein Hindernis des Handwerks, folglich fließt die Empfindung, das was sichtbar gemacht werden möchte von ganz alleine. Beim Bildhauen muss ich viel handwerklich machen, den Gips anrühren, dann wieder wegschlagen. Das Schaffen der Bildhauerei ist zu dreißig Prozent auch Handwerk. Wenn ein Künstler ganz frei ist, wird es vielleicht nur mehr zu zwanzig Prozent Handwerk sein, wenn er nicht frei ist, zu achtzig Prozent Handwerk und erst der Rest ist dann – das feie Fließen. Ich musste siebzig Jahre alt werden, bis ich mich von all diesen Hindernissen befreien konnte. Solche Hindernisse bestanden in der Bindung an Konventionen, wie Bildhauerei zu machen ist, das Anrühren des Gips, das Warten, bis der Gips die richtige Konsistenz hat. Es sind tatsächlich nur wenige Augenblicke, in denen man ihn verwenden kann. Durch das Warten verfliegt wiederum die Idee. Dann irrt man sich. Beim Zeichnen macht die Hand das alles allein. Die Hand ist ein direktes Instrument zu jenem Punkt im Sein eines Menschen, das der Kern des Daseins ist. Dort sind wir ganz in der Nähe der Schöpfung. Ekstase ist ein Zustand, in dem man nichts mehr kennt, nichts mehr empfindet von dem, was dem Menschen sonst wichtig ist, in dem man nicht mehr weiß was man gelernt hat. Es ist ein Zustand der totalen Freiheit. Ich muss viel üben, um dorthin zu kommen. Alles, was davor geschieht, ist nicht Kunst. Alles vorher ist nur das Umfeld der Kunst. Das ist sehr vieles. Auch vieles, was uns aus der Vergangenheit erhalten geblieben ist, ist nicht Kunst. Um zu ihr zu kommen, müssen die Voraussetzungen erfüllt sein. Wenn man Kunst einmal empfunden hat, wird man nicht mehr zurückversetzt werden wollen in nur banale Äußerungen des Daseins. Das beginnt schon bei der Kommunikation mit dem Mitmenschen. Man wählt bewusster aus, worüber man spricht.

Gehören Kunst und Können zusammen?

Natürlich gehören Kunst und Können zusammen. Der Künstler muss ja in der Lage sein, das Werk herzustellen. Es braucht das Handwerk, die Fingerfertigkeit. Wenn man ein Bild von Raffael betrachtet, kann man nur staunen über die Fähigkeit, die er hatte, eine Bluse oder einen Pelz zu malen. Das haben seine Hände gemacht. Im 18. Jahrhundert haben wir gesehen, dass vielen anderen das, was die Hände des Raffael machten, technisch auch gelang. Aber das ist es nicht! Die Schönheit der von Raffael gemalten Bluse ist nicht nur die äußere Perfektion des Handwerks, sondern viel viel mehr. Da kommt das nicht Fassbare dazu. Man könnte sagen, er hat es mit Leben angefüllt. Angefüllt, wie ein Ei, bis zur letzten Möglichkeit. Selbst das kleine Luftbläschen ist notwendig für das Leben. Ich habe eine Definition für Kunst: Sie ist die einzige Möglichkeit, die wir besitzen, um menschliche Energie zu konservieren und sie damit unserem nächsten zu schenken. Das Kostbarste, das wir haben, ist die menschliche Energie. Wenn sie in einer zwischenmenschlichen Beziehung da ist, wenn sie fließt, wird die Beziehung von Dauer sein. Wenn nicht, endet sie. Es ist diese Energie, die man bei großen Kunstwerken wahrnimmt. Man spürt es ohne zu Denken. Diese Kraft erfüllt uns mit großer Freude, macht uns glücklich. Wenn wir einfach das Gefühl haben, beschenkt worden zu sein – dann ist Kunst da. Ich denke an die Ägypter. Ihre Kunstwerke lagen über Jahrtausende in Gräbern verborgen. Jetzt können wir sie in Museen betrachten. Viele dieser Werke haben für uns eine starke Lebendigkeit. Es geht so eine Frische von Ihnen aus, als wären sie gestern geschaffen worden. Zum Beispiel die Büste von Echnaton im Louvre. Sie hat die Energie, die ich meine. Eine Kraft, die ununterbrochen fließt, ohne zu enden. Selbst wenn die Skulptur zerstört würde, an dem Platz, an dem sie stand, wäre immer noch eine Spur dieser Energie vorhanden.

Was bedeutet Krise?

Ich lebe abgeschieden von der materiell geprägten Welt. Nur wenn ich wie jeden Tag mein Atelier in Mailand verlasse, um einen Café zu trinken oder etwas zu essen, sehe ich Menschen. Meistens telefonieren sie oder haben Kopfhörer, als würden sie sich selbst nicht mehr ertragen und daher dauernd versuchen, sich abzulenken. Diese Ablenkung ist eine Katastrophe. Ich glaube, dass die viel beweinte Krise den Ursprung darin hat, dass wir die innere Stimme nicht ertragen. Wir müssen ununterbrochen materielle Dinge erfinden, produzieren, konsumieren, suchen etwas, das uns befriedigt. In diesem Teufelskreis muss immer alles von außen kommen, anstatt aus uns selbst. Ich glaube, dass unsere Gesellschaft seit Jahrzehnten nicht fähig war, dem Menschen etwas zu geben, das ihn erfüllt, auch wenn die Gesellschaft in Europa, was das Materielle betrifft, wunderbar organisiert ist. Aber auf welche Art der Bildung legen wir besonderen Wert? Alles ist darauf ausgerichtet, den Menschen in den Arbeitsprozess einzugliedern, dass er eine Arbeitsmaschine wird. Das geschieht ohne an den Menschen zu denken. Die Religion hat versagt und der Staat hat versagt, hat ihm nichts für die Seele, für den inneren Menschen gegeben.

Reicht es nicht, dass der Staat den Freiraum für das seelische Leben gewährt?

Es war und ist immer alles da, aber es muss angeregt werden. Der Mensch muss angeleitet werden, sonst verwildert er. Er braucht Hilfestellung, um sich bewusst zu werden, dass er Mensch ist und nicht nur ein Apparat, der seinen Körper befriedigt. Der Körper ist eben auch das Gefährt, um die Seele zu erfahren. Darüber wird zu wenig gesprochen, weil Seele und Körper getrennt worden sind, weil der Körper in Rivalität zum seelischen Menschen gestellt wurde. Das ist das große Drama unserer Gesellschaft. Das ist die Krise. Auf einmal steht der Mensch nackt da. Wenn er die irdischen Güter nicht hat, hat er nichts mehr. Und besinnt sich: wer bin ich? Ein Mensch oder nur ein Körper? Das ist noch viel trauriger, als ich es jetzt formuliert habe. Hier muss das Bewusstsein einsetzen, das Wissen um das unglaubliche Geschenk, dass jeder Mensch in sich trägt, ganz gleich welcher Herkunft und Bildung: zu bestehen aus Körper und aus Seele. Nur beide zusammen haben die Fähigkeit zur weiteren Entwicklung. Der Körper ist das große Instrument für die Seele. Hier kommt die Kunst als die große Vermittlerin auf den Plan. Einst war die Kunst die Begleiterin der Religion. Beide zusammen haben versucht, den Menschen aus dem animalischen Zustand heraus zu führen. Heute sind wir in einer geschichtlichen Situation, wo die Kunst die führende Rolle zur Vermittlung des Menschseins übernehmen müsste. Alles auf dieser Welt, Körper und Geist, müssen sich ununterbrochen erneuern. Jeder Baum bekommt im Frühling seine neuen Blätter. Sie sehen genauso aus wie die alten, aber sie sind neu. Sie sind nicht die alten, sie sind erneuert. Das ist ein Prinzip, das alles Leben auf dieser Erde bestimmt. Die Religion versagt, wenn sie in Dogmen erstickt. Die Kunst hätte die Möglichkeit, dem Menschen zu zeigen, wie großartig er ist, welche Freuden er empfinden kann. Das Bewusstsein kann uns überglücklich machen. Wir können uns an der Schönheit des Daseins freuen.

Was bedeutet es, einen Weg zu gehen?

Ich glaube, dass man das ganze Leben im Blick haben soll mit der einmaligen Chance sich innerhalb von Geburt und Tod zu verändern, besser zu begreifen, wer wir wirklich sind und dadurch wirklich mehr erfahren zu können. Alles läuft über das Bewusstsein. Was ich nicht weiß, das erfahre ich nicht. Ich sehe ja auch nur das, was ich kenne. Wir betreiben gewaltigen Raubbau an den körperlichen Möglichkeiten, weil wir vergessen den Körper psychisch und seelisch immer wieder aufzuladen. Was wir nicht berücksichtigen ist die Bedeutung der Zeit an sich, ich meine hier die Zeit als Qualität. Jedes Ding braucht seine Zeit. Wenn ich auf einen Berg hinaufgehe, weiß ich, ich brauche drei Stunden. Will ich es in einer Stunde bewältigen, habe ich vielleicht oben einen Herzinfarkt. Heute glauben wir, dass wir die Zeit raffen können, dass wir in einem bestimmten Zeitablauf immer mehr Dinge machen können. Vielleicht können wir das ja auch, aber mit der Konsequenz, dass wir Raubbau an unserer Substanz betrieben haben. Alles was wir tun, soll in Harmonie mit unserem gesamten Sein ablaufen. Wenn das nicht so ist, verwildern wir, oder der Körper weht sich, indem er sich in Krankheit flüchtet. Der heutige Stress kann für eine Gesellschaft nicht von Vorteil sein. Der Körper schafft es nicht mehr, weil er nicht mehr aufgeladen wird. Die Kunst hat die einmalige Aufgabe, den Menschen zur Harmonie zu führen, ihn zum Bewusstsein der Gesamtheit seines Daseins zu führen. Die Kunst ist das Mittel, das uns die Schöpfung in die Hand gegeben hat, um zu wachsen und uns weiter zu entwickeln. Es gibt in meinen Augen außer den Religionen vor den Dogmen nichts, was dazu geeigneter wäre, als die Kunst. Nur weiß man heute nicht mehr genau, was Kunst ist. Es ist wie eine babylonische Verwirrung. Man kennt ihre Möglichkeiten und ihre Schönheit zu wenig. Viele Menschen wissen nicht, wie wunderbar das Leben ist. Sie wissen zu wenig über ihre Möglichkeiten und wie man sie gebraucht. Im Halbschlaf vegetieren sie durch die wunderbaren Jahre des Daseins. Schon Sokrates versuchte seine Mitbürger in Athen ununterbrochen aus diesem Schlaf zu reißen, indem er sie in allerlei Fragen verwickelte. Allein die Neugierde, eine verbreitete Eigenschaft des Menschen, kann uns dazu bringen, Geheimnisse und Verborgenes in und um uns zu entdecken, um das zu finden, was uns innerlich mit Energie auflädt.

Was geschieht bei der Betrachtung von Kunst?

Es braucht eine Zeit, bis ein wirkliches Kunstwerk sich dem Betrachter erschließt. Ebenso ein Nicht-Werk, nach einer gewissen Zeit kann man genau erkennen, dass die Botschaft, die dieses scheinbare Werk vermittelt, nichts als Leere ist. Zur Zeit Tizians gab es in Venedig vierzehntausend Künstler, vom Schildermaler bis zum Anstreicher. Übrig geblieben ist nur eine Handvoll, die wirklich Künstler waren. Wenn ich ein Bild zum ersten Mal betrachte, dann sehe ich mir zuerst die Details genauer an. An ihnen ist zu erkennen, über welche handwerklichen Möglichkeiten der Maler verfügte. Wenn ich sehe, es ist ausgezeichnet gemalt, betrachte ich die Komposition, wie die einzelnen Formen im Viereck des Bildes angeordnet sind, die Helligkeit mit dem Dunkel, die Aufteilung der Farben und allmählich entdecke ich, dass die vier Begrenzungen des Bildes nicht mehr vorhanden sind, dass das Bild an allen Rändern ausflutet und zu einem Ereignis wird. Eines meiner größten Erlebnisse dieser Art hatte ich Stockholm, als ich vor dem großen Rembrandt-Gemälde „Die Verschwörung des Claudius Civilis“ stand. Nach und nach konnte ich erfassen, mit welcher Meisterschaft es gemalt ist. Und dann erkannte ich das Licht, das dieses Bild ununterbrochen verströmt. Wäre der Raum nicht beleuchtet gewesen, hätte dieses Bild die Möglichkeit, den ganzen Raum zu beleuchten. Aber nicht nur den Raum, das ganze Museum, so weit das menschliche Auge reicht, die Stadt hätte es erhellt. Von so einer Beschaffenheit war das Licht dieses Bildes, dieses alten, zu seiner Zeit beinahe schon vergessenen Rembrandt. Eine derartige Macht kann ein Bild haben, wenn es die totale Intensität eines Künstlers trägt. „Der „Narziss“ von Tintoretto, ein anderes Beispiel, strahlt seit fünfhundert Jahren ununterbrochen Freude aus. Das Bild ist einfach schön. Warum ist es schön, fragte ich mich? Das Bild vermittelt positive Energie und je länger ich davor saß, umso glücklicher wurde ich. In meinen jungen Jahren habe ich mich sehr mit der „Pietà Rondanini“, dem letzten Werk von Michelangelo beschäftigt. Wochenlang habe ich sie gezeichnet von allen Seiten, um in ihr Geheimnis zu dringen. In Wahrheit ist dieses Geheimnis von unendlicher Weite. Wenn man meint, es ein wenig erfasst zu haben, hat sie sich schon wieder um das Doppelte entfernt. Ich glaube, Michelangelo selbst ist es auch so ergangen. Hätte er noch ein bisschen länger daran arbeiten können, hätte er noch ein paar Monate länger gelebt, wäre ihm das Geheimnis noch immer weiter entflohen, so weit, bis die Skulptur in Staub zerfallen wäre. Er hätte vielleicht so lange gearbeitet, bis kein Marmor mehr übrig geblieben wäre. Man kann es nicht anhalten, es fliegt nach vorne oder es fliegt rückwärts, bis nur noch Schutt da ist. Das müssen wir Menschen absolut bedenken. Wir haben eine ungeheure Veranlagung, die uns Tag für Tag dazu drängt, der Schöpfung näher kommen zu wollen, auch wenn wir bereits wissen, dass sie unendlich groß und weit ist. Das haben wir von Einstein, Heisenberg und anderen gelernt. Und doch gibt es etwas in uns, das uns sagt: wir können uns dem Mysterium annähern, WIR KÖNNEN ES ERFAHREN, das ist große Geheimnis unseres Daseins.

Was braucht die Seele auf ihrem Weg durch die Welt?

Die alten Griechen wussten, dass DIE ZEIT DIE CHANCE IST, um seelisch und körperlich zu wachsen. Folglich haben sie sich nicht gehetzt, sondern sich VON DER ZEIT FÜHREN lassen. Sie haben die Zeit walten lassen. Jeder Mensch hat eine andere Zeit in sich. Am Anfang der Evolution eines Menschen verläuft die Zeit viel hastiger, denn der Mensch will aufholen, glaubt er hat viel versäumt. Nach und nach muss er lernen zu erkennen, worauf die Seele reagiert, und was die Seele schleift, und was sie zum Leuchten bringt, damit sie aus der Anonymität heraustreten kann, und zu sprechen beginnt. Dafür hat jede Seele, jeder Funke eine andere Zeit. Es ist eine andere als die physische Zeit des Körpers. Es gibt Menschen, in deren Familien schon mehrere Generationen die Möglichkeit und Freiheit hatten, sich mit der Arbeit der Seele zu befassen. Andere waren mit der Mühsal des physischen Daseins, dem Kampf ums Überleben vollkommen beschäftigt, und daher zu erschöpft für das andere. So interpretiere ich die Redensart „das ist ein Studierter“, es ist einer, der bereits Zeit gehabt hat für etwas anderes als die rein physische Existenz. Der Wunsch „etwas werden zu wollen“ gilt nicht nur einer Äußerlichkeit, es geht auch um einen inneren Weg. Der von der Kirche eingerichtete Sonntag ist für die seelische Entwicklung gut, aber noch zu wenig. Natürlich kann man nicht nur die Erleuchtung suchen und gleichzeitig verhungern. Es geht mir immer um das unglaubliche Geschenk der Schöpfung an den Menschen: Kunst und Religion. Es muss eine große Sache gewesen sein, als der Mensch sich selbst zum ersten Mal bewusst im Spiegel des Wasers sah, und als er mit seinen Händen zum ersten Mal sein Abbild gestaltete. Ich glaube, das war ein enormer Evolutionssprung. Ich denke das war der Moment, in dem er sich seiner geistigen Möglichkeiten bewusst geworden ist.

Was geschieht, wenn Körper und Seele kommunizieren?

Arbeit ist eigentlich Arbeit an sich selbst. Die eine Art der Arbeit dient dem Erhalt des Körpers, die andere ist schwieriger, weil sie uns fremder ist. Bei der inneren Arbeit müssen wir mehr Hürden überwinden. Was wir dort suchen ist nicht in den animalischen Daseinsbereich eingeschrieben. Folglich ist das für uns komplizierter und das Resultat ist nicht sofort sichtbar. Erst allmählich erkannte ich, dass ich die Fähigkeit zu großer Freude in mir habe. Sie ist da, wenn ich erkenne, dass mein Körper mit meiner Seele kommuniziert. Dieses Kommunizieren erfüllt beide mit Freude und zeigt sich in körperlichem Wohlbefinden und kreativer Schaffenskraft. Ich wollte immer Bildhauer sein, schon seit meinem fünften Lebensjahr. Ich schreibe das meinen ägyptischen Erinnerungen zu. Die ägyptische Kultur hat mich immer fasziniert. Wie kein anderes Volk dieser Welt, jedenfalls kenne ich kein anderes, konnten sie Himmel und Erde verbinden. Ich sah immer ganz bildlich, wie sie von dem Punkt, an dem sie sich befanden, Linien zu den Sternen projizierten, zu den Planeten und auch zu Gestirnen außerhalb unseres Sonnensystems. Es war ein Netz von Linien, das ihnen eine Geometrie in die Hände gab, mit der sie sogar Distanzen berechnen konnten. Und diese gigantische Erfahrung verwendeten sie in der Folge in ihrer Kunst, in ihrer Bildhauerei. Jede ägyptische Skulptur ist ein Wunder der Geometrie. Nicht der Schulgeometrie, sondern einer sehr komplizierten, manchmal kaum erkennbaren Art der Berechnung, mit der die Ägypter ihre Bildwerke mit den Gestirnen und dem Himmel in Verbindung brachten. Diese Verbindung von Himmel und Erde gab ihnen die Möglichkeit zu einer weiten Evolution ihrer Seele und ihres Körpers. Bis selbst in die Zeit von Echnaton und Nofretete, in der scheinbar der Individualismus das hohe Wissen in den Hintergrund stellte, waren diese Kenntnisse weiterhin absolut vorhanden. Dazu kam noch die höhere Individualisierung. Jede Zeit hat ihre Höhen und Tiefen. Wir leben in einer Zeit, in der die materielle Orientierung einen so hohen Stellenwert hat, dass sie beinahe die geistigen Bedürfnisse überdeckt. Die großen Epochen der Kunst, in denen es einen Kanon gab, in Ägypten, Griechenland und der Gotik, sind vorbei. Kunst ist zu einer individuellen Aussage geworden. Es gab Jahrzehnte, in der eine große Fülle von Künstlern die Menschen begleitete, und andere Zeiten, in denen die Kunst eher oberflächlich war. Wir leben heute in einer Zeit, wo in der Kunst sehr viel versucht und sehr viel produziert wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass all diese Versuche und diese Menge, die sich als Kunst definiert sehen will, auch Kunst ist. Das meiste, was uns gezeigt wird, ist eine Äußerung, wenn nicht sogar ein Hymnus an unser materielles, konsumbedingtes Denken. Ich will damit nicht sagen, dass es zugleich nicht auch andere Werke gibt. Ich wiederhole es nochmals: die Kunst ist der Spiegel der Seele. Ich sehe dort Kunst, wo sie uns zu einer Harmonie von Körper und Seele führt. Es ist eine Harmonie, die immer wieder erneuert werden muss. Und wieder spielt der Faktor Zeit eine große Rolle, weil jede Zeit versucht, einer neuen Empfindung Form zu geben. Diese neue Form, wie alles was neu ist, ist uns anfangs sehr fremd. Beinahe fürchten wir uns davor. Man hat immer Angst etwas zu verlieren. Manchmal ist das Verlieren aber auch ein Glück. Durch den Verlust wird man auch auf eine andere Bahn geführt. In unserer Zeit hat das Prinzip des Individualismus die führende Rolle übernommen. Bei der Betrachtung von Kunst ist es wichtig, dass man offen ist und sich nicht verschließt, dass man abwartet, bis der Augenblick gekommen ist, in dem aus unserem Bewusstsein eine Antwort kommt. Man darf sich nicht von Voreingenommenheit, von verkalktem Bewusstsein täuschen lassen. Man muss bei der Betrachtung von Kunst ganz frei und offen sein. So kann jede Kunst in uns eindringen und uns neues Denken bringen. Die Frage an die Kunst lautet: hilft sie mir bei der Entwicklung meines Daseins? Wenn die Antwort „ja“ lautet, hilft sie uns bei der Weiterentwicklung, hilft sie uns, mehr und mehr Mensch zu werden. Dann können wir sagen: die Botschaft der Kunst hat uns beschenkt und uns zu unserem wirklichen Wesen geführt. Die Seele ist es, die den Menschen ausmacht.